Am Rande. Von vergessenen Schicksale und begrabenen Träumen

Obdachlose, sinnloser Grausamkeit und dem Vergessen ausgesetztEr drehte sich um und versuchte im Halbschlaf die Decken um seinen Körper zu wickeln. Der März wird von vielen als warm empfunden, aber er ist es nicht. Nicht wenn man auf draußen schläft, wenn man wenig gegessen hat und eine ganz andere Kälte jeden Tag gegenwärtig ist: Die Kälte in den Herzen derer, die an ihm vorübergingen, auf ihn herabblickten und ihn ihre Verachtung zeigten. Ihm Tag für Tag klar machten was er für sie war. Ein schmutziger Penner, jemand der im Leben versagt hat. Ein Schmarotzer und überflüssig. Eben jemand den niemand wollte.

Manchmal dachte er noch darüber nach warum ihm die Menschen feindselig begegneten. Er hatte sich sein Schicksal anders vorgestellt, aber die meiste Zeit reagierte er nur noch mit Ablehnung. Er war über den Punkt hinaus gelangt, an welchem Selbstmitleid sein Denken bestimmte. Man mochte ihn nicht und er hatte andere Nöte als sich mit dem Warum zu befassen. Aber an diesem Morgen dachte er wieder darüber nach. Warum …

Gestern hielt er sich im Zentrum der Stadt auf; eine Einkaufspassage mit all den wunderschönen Bildern die für irgendwelche Dinge warben, welcher er sich in seinem Leben eh nicht mehr würde leisten können. Man sieht Leute wie ihn dort nicht gerne. Das Sicherheitspersonal der Geschäfte vertrieb ihn, er könnte ja die Kunden durch seine Gegenwart belästigen oder gar etwas von dem Luxus klauen welchen man sonst überteuert verkaufen könnte. Und selbst wenn es nicht verkauft wurde, so warfen die meisten es lieber weg, als dass jemand davon was haben könnte.

Die Polizei war auch nicht viel besser. Sicher, es gab auch freundliche, aber die meiste Zeit ging er den Helfern in Grün lieber aus dem Weg. Für viele war er nur ein Ärgernis, oder auch – wenn auch selten – Jemand an dem man seinen Frust ablassen konnte. Wer fragt schon nach einem Penner?

Nein. Er mochte die Stadt nicht. Er mochte die Menschen nicht. Man kam zwar dort schnell an etwas Essbares, aber Städte? Sie sind freundlich zu dir solange du Geld hast. Hast du keines, bist du unerwünscht. Am Schlimmsten in der Stadt waren jedoch die Jugendlichen…

Da gab es natürlich auch andere, die sich – wie er glaubte – selbst Etwas beweisen mussten. Wie sozial sie doch waren. Ein paar Cent hier, etwas warmes zu Essen dort, der Versuch eine Unterhaltung zu führen und zu ergründen wie er in diese Situation geraten war … “gibt bestimmt gute Noten, wenn sie ihre Arbeiten in der Schule ablieferten”, dachte er sich.

Dann gab es die Anderen, wenige nur, aber dass waren die Schlimmsten. Sie prügelten auf Leute wie ihn ein, machten sich einen Spaß daraus dass Wenige – was er überhaupt besaß – zu zerstören und sich an seinen Tränen zu ergötzen. Sie wollten dass er – der Penner – bettelte.

Nicht nach Geld, sondern nach Gnade die sie ihm eh nicht gewähren würden. Auch das hatte er gelernt. Bestien kann man nicht mit Tränen erweichen …

Nun, heute würde es ihn nicht kümmern müssen. Die Stadtverwaltung hatte die Polizei einmal mehr angewiesen den „Dreck“ aus der Stadt zu entfernen. Für ihn und andere wie ihn bedeutete es dass eine Räumung bevorstand. Wahrscheinlich irgendein hohes Tier, welches zu Besuch war, und dass nicht durch die traurige Wahrheit belästigt werden sollte. Sie wurden grob eingesammelt, in den Polizeibus verfrachtet und einige Kilometer außerhalb auf einer Landstraße abgeladen – für ihre „Wertsachen” war kein Platz im Bus. Die Stadtreinigung „kümmerte“ sich darum.

Auch diese Lektion hatte er schmerzlich lernen müssen. Als Penner gehört dir nichts. Jeder kann dir jederzeit alles nehmen und du kannst dich kaum dagegen wehren.

Viele gingen zu Fuß zurück, oder machten sich auf den Weg zu einem anderen Ort. Er blieb ein wenig hier. Sein Bein machte ihm zu schaffen – eine Entzündung und offene Wunden die nicht abheilen wollten. Er hatte es nicht eilig, wusste dass sie ihn wieder fortjagen würden, solange der hohe Gast zu Besuch war. Außerdem hatte er ein verlassenes Haus gefunden. Schimmelig und mit einbrechendem Dach, aber dass war ihm egal. Es war besser als auf der Straße zu schlafen. Und so machte er es sich in „seiner“ Behausung so bequem wie es nur ging, und schlief ein.

Er hörte dass auffällig laute und falsch klingende Lachen und begriff in seinem Halbschlaf nicht sofort worüber gelacht wurde. Anhand der Stimmen dachte er sich dass es eine Gruppe Jugendlicher war, welche vermutlich die Schule schwänzten und die hier ihre eroberte Freizeit mit Rauchen und Späßen verbringen wollte. Er bekam Angst!

Was wenn sie ihn hier erwischen würden?

Wie würden sie auf ihn reagieren, wenn sie ihn fanden?

In der Stadt war er zwar nicht willkommen, aber da waren Leute. Nicht dass irgendwer eingreifen und helfen würde, aber viele wurden durch andere Menschen abgeschreckt die Dinge zu tun, die in ihnen brannten. Er wollte nach seinem Messer fischen und es sich unter seine schmutzige Jacke stecken. Nur für den Fall der Fälle. Ein altes Küchenmesser welches er einmal auf einem Haufen Sperrmüll gefunden hatte. Er hatte es nie einsetzen müssen, meistens reichte es wenn er damit herumfuchtelte. Gott, er hätte gar nicht gewusst wohin man stechen musste. Er war ja kein Messerstecher!

Dann fiel ihm ein dass dieses jetzt, gemeinsam mit seinem restlichen Hab und Gut, vermutlich schon lange auf der Deponie lag und wartete darauf gemeinsam mit dem anderen Unrat verbrannt oder recycelt zu werden.

Er zuckte in seiner Ecke als die Türe des Schuppens krachend aufflog. Einer der Burschen hatte sie mit einem Fußtritt geöffnet und ihm folgten vier weitere Gestalten, die sich gegen den erhellten Hintergrund der Türe als schwarze Schemen abzeichneten. Er drängte sich tiefer in seine Ecke. Ja, dass war jene Art Jugendlicher die er fürchtete. Jene Art menschlicher Bestien die sich einen Spaß daraus machten ihrem Ärger über vermeintliche Ungerechtigkeiten dadurch Luft zu machen, indem sie auf Leute wie ihn einschlugen.

Er war sich bewusst gegen diese Burschen keine Chance zu haben, nicht einmal ein Knüppel lag in seiner Nähe. Außerdem waren sie gut und gerne vierzig Jahre Jünger als er und, anders als er selbst, in sehr guter körperlicher Verfassung. Sportlich, gut genährt, saubere Kleidung die aber eindeutig war: Bomberjacken, Springerstiefel, auch die Frisuren der Burschen sprachen Bände. Er vermutete dass sie aus einem guten Elternhaus stammten, und Verzicht ihnen fremd war.

Ein Feuerzeug flackerte auf und er hörte dass Geräusch, welches entsteht wenn Bierflaschen aneinander geschlagen werden. Sie prosteten sich zu, tranken, und dem Geruch nach rauchten sie nicht bloß Zigaretten. Ihre Witze waren grausam und ihre Gespräche drehten sich darum wie man am besten Frauen flach legen, Kanaken klatschen könne, oder darum wie ihre Actionhelden im Kino wieder ganze Massaker veranstalten und wie geil sie es fanden.

Sie prahlten voreinander, jeder wollte der Böseste, der Gewalttätigste und der Typ mit den meisten Weibern sein, und je leerer die Flaschen wurden, desto erregter wurden ihre Stimmen und umso fantastischer ihre Prahlerei.

Er verhielt sich still und beobachtete, versuchte keinen Laut zu machen. Rollte sich ganz klein zusammen und hoffte dass die Decke, unter der er sich verkrochen hatte, nicht ob seiner Angst zu beben begann.

Angst ist etwas merkwürdig sadistisches. Sie hat die Fähigkeit Zeit endlos wirken zu lassen, so dass man jeden Gedanken, jedes Prickeln auf der Haut, sehr intensiv wahrnimmt. Und sie schnürt einem den Hals zu! Für ihn vergingen Ewigkeiten, aber wahrscheinlich war es nur eine Stunde, oder so.

Einer der Jugendlichen stand auf und kam in seine Richtung.

Er fingerte am Reißverschluss seiner Hose herum und wollte sich erleichtern, ausgerechnet in der Ecke in der er sich versteckt hielt. Okay, er hatte schon Schlimmeres durchlebt, und was sollte eine weitere Erniedrigung, Hauptsache er kam ohne größere Verletzungen hier raus.

Der Jugendliche war nicht mehr nüchtern als er ihn bemerkte, und er konnte das Erschrecken im Blick dieses halben Kindes sehen. Für einen Moment herrschte etwas wie ein telepathischer Kontakt zwischen dem Obdachlosen und dem Jungen. Wie würde er reagieren? Ein Funken Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht würde er so tun als hätte er ihn nicht gesehen. Sich einfach umdrehen und gehen? Für den Jungen ergab sich hier die Gelegenheit endlich seiner Gang zu beweisen wer er war, auf der anderen Seite jedoch stand da die Angst etwas tun zu müssen, was er eigentlich ablehnte.

Die Augen des Obdachlosen flehten ihn an ihn nicht zu verraten und für einen Moment sah es so aus als würde der Junge sich abdrehen und ihn in Ruhe lassen.

Für einen Moment …

Dann wurde der Wunsch nach Anerkennung in seiner Gang jedoch stärker und er trat den Obdachlosen heftig in den Magen und zerrte den sich krümmenden Mann mit kräftigen und brutalen Griffen aus seinem Versteck.

“Schaut mal was ich hier habe!”. Die Anderen drehten sich zu ihm und sahen wie er den schmutzigen Penner an seiner Jacke hinter sich herzog.

Sie lachten, traten auf ihn ein, beleidigten ihn und machten ihm klar dass er, egal wo er wäre, immer der Unerwünschte, der Ausgeschlossene, sein würde. Er gab ihnen was sie wollten, bettelte um Gnade und weinte als ihre Füße wieder und wieder zu traten, weinte als ihre Schläge ihn trafen und sie ihm ins Gesicht spuckten. Er weinte und dachte zurück an eine Zeit, in welcher es nicht absehbar war, wie sehr sein Leben scheitern würde.

Er dachte zurück an seine Eltern, an dass was sie ihm für dass Leben gewünscht hatten, dachte daran wie er erwachsen wurde, seinen Träumen folgte, daran wie er heiratete und glücklich war, bis ein Unfall seinem Glück ein Ende gesetzt und sein Leben so drastisch verändert hatte …

In seinem Leben hatte er mehr verloren als nur seine Bleibe – er dachte zurück und erinnerte sich, gab sich den Erinnerungen hin, bis sie die Schläge und Beleidigungen hinwegspülten und sein Bewusstsein immer mehr in den Hintergrund trat. Eine Träne lief im aus dem Gesicht als sein Bewusstsein erlosch, und er in einen dunklen, sich drehenden Abgrund zu stürzen begann …

Als er stöhnend wieder aufwachte saß ein junger Mann neben ihm.

Keiner der Schläger, diese waren längst gegangen und hatten ihn lachend liegen gelassen, so wie man Dreck nun einmal liegen lässt. Der junge Mann tupfte sein Gesicht vorsichtig mit einem nassen Lappen ab und versuchte ihn so zu drehen dass er bequem liegen konnte. Der Obdachlose versuchte zu sprechen, aber der junge Mann hielt nur die Finger an die Lippen. Es dauerte ein wenig bis er sich soweit erholt hatte dass er aufstehen konnte. Sein Bein schien gebrochen zu sein, er wusste es nicht, er hatte ja schon vorher Probleme mit dem Bein gehabt. Der junge Mann merkte es und stützte ihn.

Er führte den Obdachlosen zu seinem Wagen, und versprach ihm zu helfen. Ihn in ein Krankenhaus zu bringen wo man sich um ihn kümmern würde. Er würde ihn mitnehmen, denn bis ein Krankenwagen an diesem gottverlassenen Ort wäre, das dauerte zu lange. Vorsichtig setzte er den Verletzten auf die Rückbank, stieg ein und fuhr los.

Sein geschwächter Körper, die sanfte Unterlage und das wärmende Gebläse im inneren des Fahrzeugs ließen ihn immer müder werden, und so schlief er ein.

Als er aufwachte kümmerten sich freundlich lächelnde Menschen um ihn. Führten ihn in ein sauberes Zimmer, gaben ihm frische Kleidung, gute Nahrung und halfen ihm dabei sich zu waschen. Einer der Ärzte meinte dass mit dem Bein bekommen wir wieder hin. Er solle sich keine Sorgen machen. Auch der soziale Dienst in diesem Krankenhaus würde ihm helfen wieder auf die Beine zu kommen und ganz bestimmt würden sie jene ausfindig machen, die ihn kannten. Auch wenn er in diesem Moment dachte dies wäre nur eine fromme Lüge. Seine liebsten waren entweder weg, oder bereits verstorben.

Dennoch: Er fühlte sich – seit sehr langer Zeit – wieder wie ein Mensch, und Etwas in ihm verstand dass er nun keine Angst mehr haben bräuchte …

Als der Wagen des jungen Mannes quietschend in die Auffahrt der Notaufnahme einbog, hatte er Panik. Der arme Teufel auf der Rückbank hatte nach einem Röcheln aufgehört zu atmen. Schnell herbeieilende Sanitäter und ein Arzt kümmerten sich um ihn, versuchten ihn noch während sie ihn ins Innere brachten zu reanimieren, aber es war zwecklos: Mehrere Frakturen, perforierte Lunge, gerissene Milz und innere Blutungen sowie der allgemein geschwächte körperlichen Zustand des armen Mannes brachten jeden Versuch einer Wiederbelebung zum Scheitern. Er war tot.

Das Handy verschwand in der Tasche – Kommissar Peters drehte sich um und verließ, die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt, das Krankenhaus. Er war traurig. Traurig und wütend darüber dass es so oft die Ärmsten und Unschuldigen traf. Sicher, er würde alles daran setzen herauszufinden wer der oder die Täter waren, aber dass Spiel war immer das Gleiche.

Irgendwann wurde einem “wichtigen” Menschen irgendetwas gestohlen oder er wurde erpresst und schon wäre dieser Fall nicht mehr von Interesse. Es war ja schließlich nur ein Obdachloser der hier zu Tode geprügelt worden war. Aber wen interessierten in dieser Gesellschaft schon Obdachlose. Peters wusste ihn solchen Momenten nicht wohin mit seiner Wut, aber was sollte er schon machen. Er war ja auch nur ein Ball in diesem grausamen Spiel. An diesem Abend würde er sich wieder die Kante geben. Wie sehr oft, und wie viele seiner Kollegen.

Man begrub ihn in einem anonymen Armengrab. Vergessen unter einem Stein der keinen Namen trug. Einzig ein kühler Wind, der durch die Grabsteine weht, weiß wer es war. Und er wird irgendwann auch die holen, die dafür verantwortlich sind …

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